„Ich hielt es für die wichtig,
die Autorität des
Rektorates zu stärken“

Abschieds-Interview mit Dr. Gerd Leipold

Gerd Leipolds Biografie ist alles andere als langweilig: Er promovierte bei einem späteren Nobelpreisträger, protestierte 1983 mit einer Ballonfahrt von West- nach Ostberlin gegen Atomtests und war über Jahre in Spitzenpositionen bei Greenpeace. Nicht zuletzt war er aber von 2015 bis 2024 auch Vorsitzender des Hochschulrats der Hochschule Biberach. Im Gespräch mit Ulrich Müller (CHE) reflektiert Gerd Leipold seine Erfahrungen aus dieser Zeit.

Als Neumitglied wurden Sie 2015 gleich zum Vorsitzenden des Hochschulrates der Hochschule Biberach gewählt – war das rückblickend eine gute Idee oder zuerst etwas überfordernd?
Natürlich wäre vorherige Erfahrung gut gewesen. Durch Gespräche mit meinen Vorgängern versuchte ich, diesen Nachteil auszugleichen. Und unbefangen und unbelastet in die Rolle zu kommen, hat auch seine Vorteile.

Welche Tätigkeiten des Hochschulrats haben Ihnen besonders viel Freude bereitet – und welche waren eher nervig? 
Insgesamt empfang ich die Tätigkeit im Hochschulrat als bereichernd und ich habe sie mit großer Freude wahrgenommen. Besonders genossen habe ich die Organisation der Wahlen der Rektoratsmitgliedern, die Leitung der Hochschulratssitzungen, den Feedbackprozess und die Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Rektor. Die Genehmigung von Stellenausschreibungen empfand ich als Pflichtübung, weil ich mich inhaltlich meist nicht für kompetent hielt und weil die intendierte Absicht, nämlich die strategische Ausrichtung der Hochschule mitzugestalten, meiner Meinung nach durch dieses Instrument nicht zu erreichen ist.

Gerd Leipold (Foto: Marcel Schwickerath)
Foto: Marcel Schwickerath
Gerd Leipold beim Forum Hochschulräte im September 2023

 
Was war in den neun Jahren als Hochschulratsvorsitzende Ihr größter Erfolg, was die schwierigste Situation?
Hochschulräte sind begleitend und kontrollierend, deshalb sollte das Hauptaugenmerk auf die Erfolge der Hochschulleitung und der Hochschule selbst liegen. Ich denke aber, dass ich die Rektorenwahlen so organisiert habe, dass sie allgemein als fair gesehen wurde, obwohl jeweils interne Kandidaten zur Wahl standen. Die Abwahl eines Rektors und der damit verbundene Wechsel im Rektorat war persönlich belastend und inhaltlich herausfordernd. 

Würden Sie im Nachhinein irgendetwas ganz anders angehen als Sie es getan haben?
Hinterher ist man immer klüger, aber man lebt nur einmal. 

Als Hochschulratsvorsitzender waren Sie, Sie haben das gerade schon erwähnt, auch zweimal Vorsitzender der Findungskommission bei der Wahl der Hochschulleitung. Haben Sie da Lessons Learned identifiziert, wie dieses durchaus zeitaufwendige Verfahren zielführend gestaltet werden kann?
Ich empfand es als wichtig, in der Findungskommission zuerst darüber Einverständnis zu erzielen, was die Hochschule in der jeweiligen Situation brauchte und dann im Anforderungsprofil nicht nur die verlangten persönlichen und fachlichen Qualitäten, sondern auch die Erwartungen und Bedürfnisse der Hochschule zu formulieren. Den Prozess habe ich umfangreich dokumentiert, auch deshalb, weil ich selbst nicht auf die Erfahrungen aus früheren oder anderen Findungskommissionen zurückgreifen konnte. Die Unterstützung durch das Ministerium war hilfreich, Verfahrensfehlern zu vermeiden, aber weniger bei der Gestaltung eines guten und systematischen Such- und Auswahlprozesses. Ich bezweifle aber – und ich sage dies ohne Bitterkeit – ob die Erfahrungen, die ich in die Findungskommissionen einbrachte und gewann, auch anderen zugutekommt. Die mangelnde Kontinuität, die sich auch im Fehlen von guter Dokumentation oder der Weitergaben von Erfahrung von anderen Hochschulräten ausdrückt, schwächt die Arbeit von Hochschulräten. Die Veranstaltungen des Forums Hochschulräte haben in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle. Ich habe sie regelmäßig besucht und von ihnen profitiert.

Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit der jeweiligen Hochschulleitung erlebt und konkret gestaltet? Wie haben Sie da Nähe und kritische Distanz ausbalanciert?
Mein Rollenverständnis war, in den Sitzungen und innerhalb der Hochschule Nähe zur Hochschulleitung zu demonstrieren und im direkten Kontakt die kritische Distanz zu üben. Über die Protokolle von Hochschulleitung und Senat hielt ich mich informiert über Entwicklungen in der Hochschule. Mit der Hochschulleitung habe ich mich mindestens einmal vor jeder Sitzung des Hochschulrates ausführlich besprochen. Dabei haben wir gemeinsam die Tagesordnung und erwünschte Ergebnisse besprochen und ich formulierte die Erwartungen an die nötigen Informationen für die Sitzung.

Von 1990 bis 1998 gehörten Sie dem Aufsichtsrat von Greenpeace Deutschland an. Welche Parallelen gibt es zwischen einem Hochschulrat und einem Aufsichtsrat, was unterscheidet die Modelle?
Ein Aufsichtsrat ernennt und kontrolliert die Geschäftsführung und beeinflusst und genehmigt die Gesamtstrategie der jeweiligen Institution. Ein Hochschulrat hat – zumindest in Baden-Württemberg – ein beschränkteres Mandat, ist eher beratend als entscheidend. 

2023 haben Sie die Beobachtung geteilt, das Hochschulgesetz lasse in Baden-Württemberg eine spürbare Unschärfe bei Rollen und Aufgaben des Hochschulrats und des Rektorats. Würden Sie sich beim Kompetenzzuschnitt und der Rollenbeschreibung des Hochschulrats Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen wünschen?
Das Hochschulgesetz reflektiert zwei sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Leitung einer Hochschule: Auf der einen Seite die Ansicht, dass Hochschulen sich weitgehend selbst verwalten sollten, auf der anderen, dass sie von außen kontrolliert und gesteuert werden sollen. Für beide Vorstellungen kann man gute Gründe finden, und sie finden ihre Heimat in den verschiedenen demokratischen Parteien. Das Hochschulgesetz ist ein politischer Kompromiss und als solches natürlich auch legitimiert. Dementsprechend ändern sich mit den Mehrheitsverhältnissen auch die Einschätzungen über die Aufgaben und Rollen eines Hochschulrates. Häufige Änderungen des rechtlichen Rahmens halte ich nicht unbedingt für nützlich, es gibt meiner Meinung nach andere Politikbereiche, die hier eine höhere Notwendigkeit aufweisen. Geholfen hätte mir allerdings eine größere Klarheit von seitens des Gesetzgebers, welche Interessen Hochschulräte zu vertreten hätten: Sind sie Anwalt des Gemeinwohls? Sind sie Vertreter der jeweiligen Region? Sollten sie sich für das Eigeninteresse der Hochschule einsetzen?

Sie deuteten die gesetzliche Unschärfe positiv: Sie erlaube, Rollen und Aufgaben selbst zu definieren. Und sie selbst sahen Ihre wesentliche Aufgabe darin, die durch Gesetz und Praxis schwach ausgeprägte Autorität des Rektorates und besonders die des Rektors zu stärken. Würden Sie Hochschulräte generell zu dieser Rolleninterpretation raten oder halten Sie alternative Interpretationen ebenfalls für legitim und praktikabel?
Die Autorität von Hochschulleitungen, denen traditionelle Mittel von Leitung und Gestaltung wie Personalhoheit und institutioneller Zuschnitt nicht oder nur sehr beschränkt zur Verfügung stehen, ist schwach ausgeprägt. Dies ist meiner Meinung nach ein Nachteil für die strategische Weiterentwicklung von Hochschulen. Ich glaube, dass heute diese strategische Weiterentwicklung wichtiger ist, als sie vielleicht in früheren Zeiten war. Daher hielt ich es für die wichtig, die Autorität des Rektorates zu stärken, etwa durch öffentliche Unterstützung und durch die Beschränkung der kritischen Distanz auf den direkten, persönlichen Kontakt. Natürlich sind auch andere Rolleninterpretation legitim und praktikabel.

Mein Rollenverständnis war, in den Sitzungen und innerhalb der Hochschule Nähe zur Hochschulleitung zu demonstrieren und im direkten Kontakt die kritische Distanz zu üben.

Gerd Leipold (Foto: Marcel Schwickerath)

Gerd Leipold

Langjähriger Vorsitzender des Hochschulrats der Hochschule Biberach

Sie haben als Vorsitzender des Hochschulrats einen jährlichen Feedbackprozess zur Arbeit der Hochschulleitung etabliert: Externe Mitglieder des Hochschulrates führten strukturierte Interviews mit Hochschulangehörigen aus allen Bereichen der Hochschule und wichtigen externen Kontakten und trugen ihre Eindrücke zusammen. In einem vertraulichen Gespräch zwischen Rektor und externen Hochschulratsmitgliedern wurden die Ergebnisse und Eindrücke ausgetauscht. Was hat Sie motiviert, einen solchen – im Hochschulgesetz an keiner Stelle erwähnten – Prozess einzuführen? Was motivierte die Hochschulleitung, daran mitzuwirken? Und: wo zeigten sich positive Effekte?
Nach dem baden-württembergischen Hochschulgesetz beaufsichtigt der Hochschulrat die Geschäftsführung des Rektorates. Wie das passiert soll, ist nicht weiter ausgeführt. Für mich verlangt diese Aufgabe eine strukturierte Evaluation. Da aber der Hochschulrat nicht Vorgesetzter des Rektors ist und eine Evaluation weder explizit verlangt oder vorgeschlagen wird, haben wir stattdessen einen informellen "Feedbackprozess" eingeführt. Wegen der oben angeführten Maxime, die Autorität der Hochschulleitung zu stärken, waren an dem Feedbackprozess nur externe Hochschulratsmitglieder beteiligt. Der Prozess hatte mehrere Vorteile: Er bringt Hochschulangehörige dazu, mit Distanz über die Arbeit der Hochschulleitung zu reflektieren. Er vermittelt der Hochschulleitung, wie ihre Arbeit in der Hochschule gesehen wird – wobei sie oft wahrnehmen, dass es mehr positive Einschätzungen gibt, als im täglichen Leben wahrgenommen wird, weil typischerweise Kritik lauter als Lob geäußert wird. Und er erlaube externen Hochschulratsmitgliedern einen besseren und systematischeren Einblick in die Hochschule.

Man könnte bei Ihrer Biografie erwarten, dass Ihrer Funktion als Vorsitzender die Rolle des Hochschulrats als "Brücke in die Gesellschaft" eine prominente Rolle spielen würde. Klar, auch eine Hochschule ist Teil der Gesellschaft – aber ist es eine Aufgabe des Hochschulrats, als überwiegend externes Gremium gesellschaftlich relevante Themen, aktuell etwa den Klimawandel und die gefährdete Demokratie, pointiert in strategische Diskussionen der Hochschule einzubringen? Oder haben Hochschulleitung das eh auf dem Schirm, so dass eine Mahnerfunktion obsolet ist?
Viel mehr als bei kommerziellen Unternehmen sind gesellschaftlich relevante Themen in einer Hochschule immer präsent, oft sogar Teil der täglichen Arbeit. Ein Hochschulrat ist deshalb wohl nicht als Mahner nötig, kann aber durchaus Außensicht und Erfahrung einbringen und Empfehlungen zu relativen Gewichtungen geben.

Hochschulratsarbeit ist teilweise mit einem hohen Zeitaufwand verbunden. Wenn eine vielbeschäftigte Führungspersönlichkeit aus Wirtschaft und Politik, aus einer NGO oder aus der Wissenschaft Sie fragt: "Ich wurde gebeten, im Hochschulrat der Hochschule XY mitzuarbeiten – lohnt der Aufwand? Soll ich zusagen?" – Was antworten Sie ihr?
Der Zeitaufwand ist – sofern man nicht den Vorsitz hat – durchaus beschränkt. Ich habe den Kontakt mit der Hochschule und die Arbeit im Hochschulrat als sehr bereichernd empfunden und war dankbar, ein öffentliches Amt ausüben zu dürfen. Ich würde deshalb sicher zuraten, sich dieser Aufgabe zu stellen. Ich würde diese Empfehlung verknüpfen mit der Feststellung, dass der Einfluss des Hochschulrat begrenzt ist und dass nicht alle eigenen Erfahrungen in einer Hochschule anwendbar sind.

Immer mehr Länder sehen inzwischen eine Amtszeitbegrenzung bei Hochschulräten vor. Halten Sie das für sinnvoll? Es dauert ja auch eine gewisse Zeit, gedanklich und inhaltlich richtig reinzukommen. Was ist wichtiger: regelmäßige Fluktuation und Erneuerung oder Aufbau von Erfahrungswissen?
Ich halte Amtszeitbegrenzungen (zum Beispiel auf drei Amtszeiten) für gut und notwendig, weil jede Institution neue Impulse braucht und weil, wie wir ja in vielen Bereichen sehen, dass verdienstvolle Menschen zu lange in einem Amt sind und selber zu einem Problem werden können. Wie eben bereits erwähnt, finde ich schon, dass es in den Institutionen einer Hochschule zu wenig Kontinuität gibt. Aber dieses Manko sollte man mit besserer Dokumentation und Information und guten Übergaben begegnen.

Nach drei Amtsperioden und neun Jahren sind Sie 2024 aus dem Hochschulrat der Hochschule Biberach ausgeschieden – fehlen Ihnen die Sitzungen und Gespräche oder sind Sie froh über neuen Freiraum?  
Für mich und für die Hochschule war es gut, dass es einen Wechsel gab. Ich sehe mit Dankbarkeit zurück auf meine Tätigkeit im Hochschulrat.