Positionspapier des Forums Hochschulräte vom September 2017
Am 14. November 2016 erklärte der baden-württembergische Verfassungsgerichtshof (VerfGH) das Landeshochschulgesetz in Teilen für verfassungswidrig. Diese Entscheidung stellt nicht nur Landesregierung und Landtag in Baden-Württemberg vor große Herausforderungen – bis 31. März 2018 muss das Hochschulgesetz des Landes angepasst werden –, sondern sorgt bundesweit für Diskussionen, da es grundsätzliche Fragen der Wissenschaftsfreiheit und der Hochschulgovernance berührt. Es ist zu befürchten, dass dieses Urteil auch in anderen Ländern Anlass gibt, Hochschulgesetze so zu novellieren, dass Rückverlagerungen von Kompetenzen in die Ministerien erfolgen oder die Handlungsfähigkeit der Hochschulen eingeschränkt wird. Insbesondere die Konzentration der Rechtsprechung des VerfGH auf die Sicherung der professoralen Mehrheit in allen wissenschaftsrelevanten Entscheidungen wird nach Ansicht deutscher Hochschulräte der Entwicklung der Wissenschaft und der Hochschulen unter den Bedingungen der Vernetzung und des internationalen Wettbewerbs nicht gerecht.
Das vorliegende Positionspapier erläutert in diesem Zusammenhang aus Sicht der Hochschulräte wesentliche Punkte. Es basiert auf Diskussion innerhalb des Forums Hochschulräte und berücksichtigt die umfangreichen Erfahrungen und Erkenntnisse der Teilnehmenden dieses Forums. Hochschulräte sind dem Grundsatz der Hochschulautonomie verpflichtet. Sie begleiten – bei länderspezifisch sehr unterschiedlich ausgestaltetem Aufgaben- und Kompetenzzuschnitt – die jeweilige Hochschule konstruktiv-kritisch aus der Außenperspektive, um Eigenverantwortung, Zukunftsorientierung und Entscheidungsfähigkeit der Hochschulen zu fördern und teilweise Hochschulen auch zu kontrollieren.
Die Organisationseinheiten der Wissenschaft haben immer wieder ihre Anpassungsfähigkeit an die jeweiligen Erfordernisse der Zeit und vor allem an die dynamischen Veränderungsprozesse in der Wissenschaft selbst bewiesen. Auch aktuell stehen Hochschulen vor großen Herausforderungen und folgenreichen Entwicklungen. Weltweit steigende Anteile eines Altersjahrgangs in den jeweiligen Hochschulsystemen und die wachsenden Anforderungen einer sich immer weiter vernetzenden Wissensgesellschaft bleiben nicht ohne Auswirkungen. Zunehmend wettbewerbliche Finanzierungsmöglichkeiten, verstärkte Kooperation mit externen Partnern und die Notwendigkeit zur Profilbildung angesichts der Diversifizierung und der Kosten der Wissenschaft haben in den Hochschulen den Wandel hin zur professionell geleiteten eigenverantwortlichen Hochschule (Hochschulmanagement statt "-verwaltung") befördert.
Organisational zeigen sich die Hochschulen weiter flexibel. Forschung organisiert sich in den Hochschulen zum Beispiel mittlerweile nicht mehr nur über Lehrstühle, sondern auch über Fachgruppen, zentrale wissenschaftliche Einheiten, Forschergruppen, Sonderforschungsbereiche, Graduiertenkollegs u.v.m. Vielfach sind hochschulinterne und hochschulübergreifende Forschungsallianzen wie Exzellenzcluster, Graduiertenschulen und Schools etc. entstanden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind – fächerspezifisch in unterschiedlicher Ausprägung – zunehmend auf Wissenschaft ermöglichende Infrastrukturen wissenschaftlicher, technischer und administrativer Art angewiesen. Es entwickeln sich zunehmend ausdifferenzierte Rollen und neue Professionen in der Wissenschaft (etwa Fakultätsmanager oder Geschäftsführer eines SFB).
Bei aller Anpassungsfähigkeit gilt konstant: Wissenschaft wird in der Regel von Personen in Institutionen betrieben. Und die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG schützt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sowohl die einzelnen wissenschaftlich arbeitenden Akteure als mittelbar auch die Wissenschaft ermöglichende Institution. Auf die aktuelle Situation angewendet heißt das konkret: Der einzelne Wissenschaftler muss Gegenstand, Methoden und Schlussfolgerungen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit bestimmen können, so wie die Hochschule in der Lage sein muss, ihre Strategie und Profilierung im Rahmen der Hochschulplanung und -entwicklung des Landes autonom zu gestalten. Nicht selten besteht ein schwer auflösbares Spannungsverhältnis zwischen individueller und institutioneller Wissen-schaftsfreiheit, das es produktiv zu nutzen und zu gestalten gilt.
Aufgrund des auch von den Hochschulen geforderten Rückzugs des Staates aus der unmittelbaren administrativen Hochschulsteuerung und der Stärkung der Eigenverantwortung und Autonomie der Hochschulen hat in den letzten Jahren die institutionelle Seite an Gewicht gewonnen. Aus Perspektive der Hochschulräte stellt eine solche Stärkung der Hochschulorganisation und -leitung keine Bedrohung für die individuelle Wissenschaftsfreiheit dar. Die individuelle Wissenschaftsfreiheit bedarf zu ihrer Realisierung in der Praxis vielmehr der institutionellen Absicherung. Die Institution sichert diese gegen Gefährdungen von außen (etwa illegitime staatliche Eingriffe). Damit die Stärkung institutioneller Wissenschaftsfreiheit und Professionalisierung der Hochschulleitung jedoch intern nicht auf Kosten der individuellen Autonomie der einzelnen Wissenschaftler gehen, wurden sie unmittelbar mit der Einführung eines ausgewogenen Systems von Checks und Balances verknüpft: Hochschulleitungen werden mit weitreichenden Entscheidungskompetenzen ausgestattet, der Senat bildet als oberstes akademisches Entscheidungsorgan die Innensicht der Wissenschaft in der Hochschule ab, der Hochschulrat fungiert als (zumindest größtenteils extern besetzter) Ratgeber und übt – je nach landesgesetzlicher Ausgestaltung – teilweise auch Aufsichtsfunktionen aus. Nur institutionelle Autonomie, die adäquat und partizipativ umgesetzt wird, sichert die individuelle Wissenschaftsfreiheit und ermöglicht wissenschaftsnahe Entscheidungen. Ein konstruktives Zusammenwirken innerhalb der Hochschule sowie zwischen Hochschulen und Staat ist unabdingbar, um in einem herausfordernden Umfeld erfolgreich agieren zu können.
1. Dem Wissenschaftssystem Zukunftsperspektiven eröffnen
Das moderne Wissenschaftssystem bietet ein sehr differenziertes Bild an wissenschaftlich arbeitenden Akteuren. Das BVerfG spricht daher – im Gegensatz zur Rechtsprechung des VerfGH vom 14. November 2016 – zu Recht in zentralen Urteilen, etwa in den Leitsätzen der Entscheidung vom 24. Juni 2014, in allgemeinerer Form von "Wissenschaftlern" und "in der Wissenschaft Tätigen" statt von "Hochschullehrern" als zentralen Grundrechtsträgern. Dieses breitere Verständnis sollte auch künftigen Entscheidungen und gesetzlichen Regelungen zu Grunde gelegt werden. Die Bedingungen, unter denen heute wissenschaftliche Arbeit erbracht und realisiert wird, sind weiterhin nach Disziplinen unterschiedlich. Aber generell gilt, dass Wissenschaft im internationalen Wettbewerb weniger singulär, sondern eher kollaborativ, in Netzwerken unterschiedlichster Akteure und in Angewiesenheit auf unterstützende Strukturen geschieht und dass Wissenschaft sich stärker als früher dem Ringen um Ressourcen stellen muss. Die Hochschulen müssen deshalb adäquate Bedingungen für alle wissenschaftlich Tätigen schaffen können. Dies sollte in der Gesetzgebung der Länder wie in der Rechtsprechung angemessene Berücksichtigung finden.
2. Handlungsfähige Hochschulleitungen weiter ermöglichen
Angesichts der Entwicklung des Wissenschaftssystems sind professionell agierende Hochschulleitungen unentbehrlich. Schwerpunktsetzungen, Profilierungen und Umstrukturierungen müssen möglich und umsetzbar sein. Eine handlungsfähige Hochschulleitung ist elementarer und konstitutioneller Garant der Wissenschaftsfreiheit gegenüber den Eingriffsversuchen des Staates und sonstiger externer und interner Akteure. Daneben ist die Übertragung von Budget-, Organisations- und Personalautonomie sowie Planungs- und ministeriellen Fachaufsichtsfunktionen auf die Hochschulen, wie dies in einer Reihe von Ländern geschehen ist, ohne ein Kontrollorgan der Hochschule, das mehrheitlich nicht aus Mitgliedern der Hochschule besteht (dem Hochschulrat), nicht verantwortlich umsetzbar. In letzter Konsequenz fungiert also der Hochschulrat in seiner Mittlerrolle zwischen Staat, Hochschule und Gesellschaft auch als ein Garant individueller Wissenschaftsfreiheit.
Eine handlungsfähige Hochschulleitung und ein zumindest überwiegend extern besetzter Hochschulrat müssen jedoch – wie auch vom BVerfG eingefordert – eingebunden sein in ein System von Checks und Balances. Aus Sicht der Hochschulräte können die Checks und Balances in der konkreten Ausgestaltung durchaus sehr unterschiedlich konstruiert werden. Grundlegend ist aber, dass die Umsetzungswege auf eine praktikable Weise starke, jedoch partizipative Leitungen in austarierter Balance zwischen den komplementären Funktionen und Rollen der Hochschulleitung, des Senats und des Hochschulrats ermöglichen.
Die Leitsätze der Entscheidung des BVerfG vom 24. Juni 2014 skizzieren dafür einen überzeugenden Ansatz. Sie halten fest, dass alle wesentlichen Entscheidungen einer Hochschule entweder unmittelbar durch das "Vertretungsorgan der akademischen Selbstverwaltung" gesteuert und entschieden werden müssen oder durch Gremien/Organe (wie etwa der Hochschulleitung oder dem Hochschulrat) zu verantworten sind, die von diesem Vertretungsorgan, dem Senat (ggf. gemeinsam mit anderen, jedenfalls aber prägend durch den Senat), legitimiert wurden. Die Leitsätze fordern zu Recht nicht, dass alle wesentlichen Entscheidungen einer autonomen und eigenverantwortlichen Hochschule durch Hochschullehrermehrheit entschieden werden müssen. Da sich kaum noch hochschulische Entscheidungssituationen identifizieren lassen, die nicht in irgendeiner Weise als "wissenschaftsrelevant" anzusehen sind, wäre eine solch einseitige Verantwortungszuordnung schon allein kapazitativ in der Praxis kaum leistbar.
3. Europäischen Kontext berücksichtigen
Deutsches Hochschulrecht muss heute als Teil des europäischen Hochschul- und Wissenschaftsraums verstanden werden und dessen Entwicklung berücksichtigen. Das Prinzip der Wissenschaftsfreiheit ist Teil der westlichen Wertegemeinschaft. Seine erste Kodifizierung erfolgte 1832 im Gründungsgesetz der Kantonsuniversität Zürich mit der Formulierung "an der Hochschule gilt akademische Lehr- und Lernfreiheit". "Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei", lautet Art. 17 des österreichischen Staatsgrundgesetzes aus dem Jahr 1867. In keinem dieser beiden Länder gilt – im Gegensatz zur Entscheidung des VerfGH – jedoch die Professorenmehrheit als verfassungsrechtliche Vorgabe für die Organisation der Hochschulen. Dies ist in Österreich durch den Verfassungsgerichtshof explizit bestätigt worden.
4. Spielraum für länderspezifische Lösungen erhalten
Da Hochschulen sich stetig im Wandel befinden, müssen gesetzliche Regelungen dem Rechnung tragen und Freiräume sowie Flexibilität für hochschulindividuelles Handeln eröffnen. Unterschiedliche Lösungsansätze müssen möglich sein. Dies wiederum setzt voraus, dass Gerichte den Landesgesetzgebern und -ministerien entsprechend ausreichend Handlungsspielraum lassen. Bereits das Minderheitsvotum zweier Richter am BVerfG zum Hochschulurteil von 1973 argumentiert treffend, dass "verfassungsgerichtliche Verbote im Unterschied zu inhaltsgleichen Gesetzesregelungen auch in ihren Fehleinschätzungen nur schwer korrigierbar sind und die weitere hochschulpolitische Entwicklung in einer krisenhaften Übergangsphase festschreiben, in der sich der Freiheitsgedanke eher in zukunftsoffener Flexibilität bewähren müsste". Dieser Grundsatz gilt auch in der aktuellen Situation. Gesetzgeber und Gerichte sollten Grundprinzipien festlegen, nicht jedoch deren Umsetzung über detaillierte Verfahrensregeln vorgeben.